Inhalte der Ausstellung

Am Anfang: Eine Kirche für Handelsleute

Die Anfänge des Kreuzchors sind nur bruchstückhaft zu rekonstruieren: Bereits vor der ersten überlieferten Erwähnung Dresdens 1206 lässt sich auf dem Gebiet der Kreuzkirche, nahe einer Elbbrücke, eine Kapelle für Kaufleute vermuten. Die Verbindung von Handelsweg und Gotteshaus für Reisende war durchaus typisch. 1215 wurde die dort neu errichtete Basilika unter den Schutz des Heiligen Nikolaus, Patron der Kaufmannschaft, gestellt. 1234 schenkte Konstanze, Gemahlin des Meißner Markgrafen, der Kirche einen Splitter vom Heiligen Kreuz, der viele Wallfahrer anzog und 1388 in die Weihe der nun sogenannten Kreuzkirche mündete.

Wer die Gottesdienste musikalisch gestaltete, ist für die frühe Zeit nicht belegt. Seit der 700-Jahrfeier wird argumentiert, eine Pfarrkirche, die nicht auf Mönche zurückgreifen konnte, sei auf singende Knaben und damit auf eine Lehranstalt angewiesen und so seien Schule und Chor so alt wie die Kirche.

Für das Jahr 1300 ist erstmalig ein Schulmeister dokumentiert, erst im 15. Jahrhundert belegen Rechnungen des Brückenamts, das mit der Kirche eine Verwaltungseinheit bildete, eine rege Singtätigkeit von Geistlichen und Schülern.

Reformation

Schule und Musik

Erst nach dem Tod Herzog Georgs wurde 1539 im albertinischen Sachsen die Reformation eingeführt. Durch zwei Visitationen an Kirchen und Schulen prüfte und begleitete Georgs Bruder Herzog Heinrich die konfessionelle Neuausrichtung im Land. Die Veröffentlichung von Bibeln, Gebet- und Gesangbüchern sollte diese unterstützen.

Mit der Annahme der Lehre Luthers war auch eine Neugestaltung des Bildungswesens verbunden. Der Bildungsstandard in den Lateinschulen des Landes sollte auf der Grundlage von Melanchthons Unterricht der Visitatorn (Fassung von 1538) vereinheitlicht werden. In Dresden existierten neben der Kreuzschule als weitere Chorschulen die Neustädter (erwähnt 1465) und die Annenschule (gegr. 1579). Im Bildungskonzept spielte die Musik zur Vermittlung christlicher Inhalte in Schule und Kirche eine herausragende Rolle.

Um den Protestantismus zu stabilisieren, wurde das 100-jährige Reformationsjubiläum in Sachsen und Dresden durch obrigkeitliche Anordnung im Jahr 1617 aufwendig gefeiert. Auch in den folgenden Jahrhunderten bot das Reformationsereignis den Kreuzkantoren und dem Chor Anlass zur konfessionellen Selbstvergewisserung.

Repertoire

Im Juni 1615 sichtete der Kreuzkantor Samuel Rüling alle Musikalien, die sich auf dem Chor und der Kreuzkirche befanden und verzeichnete sie in einem Inventar. Die handschriftliche Liste gibt Einblick in das Repertoire, welches in den vorangegangenen Jahrzehnten vom Kreuzchor gesungen, aber auch aktuell gepflegt wurde. Wie gestaltete sich der Wandel nach der Reformation musikalisch? Mit Handschriften und Drucken aus verschiedenen Gegenden Deutschlands und Europas zeigt sich zunächst eine überkonfessionelle Kontinuität. Dabei stehen Pergamentbände mit lateinischen Messgesängen neben Werken des Münchner Hofkapellmeisters Orlando di Lasso oder neu erschienenen venezianischen Motettensammlungen. Typisch protestantische Beiträge bilden mehrstimmige deutsche Passionsvertonungen. Eine lokale Anbindung an die höfische Musik dokumentieren die aktuellen Publikationen des Hofkapellmeisters Rogier Michael und seines weitaus berühmteren Stellvertreters Michael Praetorius. Wie sich anhand der zahlreichen Nachträge des Inventars nachvollziehen lässt, baute der Kreuzkantor Christoph Neander im zweiten Drittel des 17. Jahrhunderts das genuin protestantische Repertoire systematisch aus.

Verortung

Kirche und Schule

Der Kreuzchor gehört zur Kreuzkirche. Die Knaben vollzogen hier nicht nur über Jahrhunderte in unterschiedlichen Formationen unzählige Dienste. Der Chor teilte auch Erfahrungen der Zerstörung durch Feuer und Kriege, ebenso wie er in einem bisher nicht durchleuchteten Maße Aufbau und Neuanfang bestätigte.

Über die Kreuzkirche hinaus wirkten die Kruzianer regulär in der Frauenkirche (1559 bis 1896), der Sophienkirche (1610 bis 1923) und der Begräbniskirche auf dem Johannisfriedhof (1858 säkularisiert). Nach der Zerstörung der Innenstadtkirchen im zweiten Weltkrieg sangen sie in verschiedenen Stadtteilen und ab 1950 regelmäßig in der Annenkirche.

Die Schule lag über Jahrhunderte hinweg immer in unmittelbarer Nähe der Kreuzkirche. 1866 wurde ein Neubau am Dohnaischen Platz, später Georgplatz, bezogen, mit dem sich erhebliche Raumprobleme lösten und gleichzeitig ein Zeichen der Emanzipation und Modernisierung gesetzt wurde. Schnell entwickelte sich dieses Gebäude für die Kruzianer zum Bezugsobjekt. Nach 1945 waren Chor, Alumnat und Schule vorerst über die Stadt verteilt. Erst 1959 gelang es, sie in der Eisenacher Straße, wo sie bis heute beheimatet sind, wieder zu vereinen.

Straße

Die Kruzianer vollzogen ihren Dienst auch auf der Straße. Zum Kurrendesingen, zum Leichensingen, zu Hochzeit und Taufen sowie bei sonstigen "Singumgängen" verteilten sie sich fast alltäglich über den gesamten Stadtraum. Die Einnahmen dienten ihrem Lebensunterhalt ebenso wie der finanziellen Absicherung von Lehrern und Schule. Die Spendenbereitschaft schien über die Jahre zu sinken; Stimmen wurden laut, die den Auftritt der Kruzianer als Belästigung empfanden. Schülern und begleitenden Lehrern waren die Singumgänge zunehmend peinlich, zudem strapazierten sie die Stimmen stark.

Ist die Straße ein Ort der Kruzianer? Um diese Frage entzündete sich zu Beginn des 19. Jahrhunderts ein Streit, der über Dresden hinaus wirkte und sogar in der Allgemeinen musikalischen Zeitung seinen Niederschlag fand. Die Diskussion drehte sich um die Herausforderung, den Jungen unabhängig von ihrer Herkunft Zugang zu Bildung zu bieten, sowie um Fragen des akademischen Anspruchs der Schule und seiner Rahmenbedingungen.

Im 20. Jahrhundert wurde das Kurrendesingen für die Identität des Chors stilisiert.

Theaterbühnen

Auch im regen Dresdner Theaterleben hatten die Kruzianer ihre Aufgaben. Zunächst nur sporadisch wirkten sie unterstützend am 1719 neu eröffneten Hoftheater. Seit den 1780er Jahren sangen die Jungen regelmäßig im Kleinen Kurfürstlichen Theater. Das Repertoire umfasste aktuelle italienische Opere buffe Traettas, Salieris, Cimarosas und verschiedener Dresdner Kapellmeister. Damit verließen die Kruzianer Kirche, Schule, Alumnat und fanden sich in Arkadien, im Serail des Sultans von Bagdad oder auf einer von Menschenfressern bewohnten Insel wieder. In Schule und Kirche wurden die finanziellen Einnahmen zwar begrüßt, gleichzeitig bestanden Zweifel an der moralischen Integrität von Operninhalten und Theaterleben. Ein weiteres Betätigungsfeld bot ab 1790 der Impresario Joseph Seconda im Theater am Linckeschen Bade. Als zwei Choristen jedoch heimlich für einen Winter mit der Secondaschen Truppe nach Leipzig gingen, wurde allen Jungen der städtischen Schulen die Mitwirkung an der Unternehmung untersagt. 1817, als sich kritische Stimmen hinsichtlich der Qualität der Chorleistung mehrten, hoben Schulleitung und Oberkonsistorium auch die Kooperation des Kreuzchors mit dem Hoftheater auf. Seit dem 20. Jahrhundert werden Kruzianer regelmäßig wieder auf der Bühne eingesetzt.

Residenz

Ein reiches höfisches Musikleben prägte die Residenzstadt Dresden. Die Berührungspunkte zwischen dem Kreuzchor und der höfischen Welt waren dabei überschaubar. Neben der Oper boten zunächst öffentliche Ereignisse der Repräsentation Anlässe zur Interaktion. Wenn im 16. und 17. Jahrhundert verstorbene Mitglieder des Herrscherhauses von Dresden nach Freiberg überführt wurden, um im dortigen Dom St. Marien beigesetzt zu werden, reihten sich die Kruzianer in den offiziellen Trauerzug ein.

Ebenso beteiligte sich der Kreuzchor bei vom Hof veranstalteten öffentlichen Maskeraden: Der Umzug zur Fastnacht von 1609 umfasste Adlige, exotische Formationen sowie Gruppen der städtischen Gesellschaft und des Umlands, unter ihnen - relativ am Schluss des Zugs - die Chorschüler.

Besonders im 19. Jahrhundert vereinigten sich bürgerliche Kreise, um Mitgliedern des Herrscherhauses anlässlich von Geburtstagen, Hochzeitstagen, anderen Ehrentagen zu huldigen – auch hierbei war der Kreuzchor zugegen.

Im Schatten des Hofes? Das Verhältnis zwischen Dresdens bürgerliche Musikeinrichtungen, Kreuzkantor und Kreuzchor und dem höfischen Musikleben wirft noch etliche Fragen auf.

Der Kantor

Mentor, Musiker, Manager?

Fest eingebunden in das Schulkollegium war der Kreuzkantor seit der Reformation ein Lehrer mit zahlreichen nicht-musikalischen Unterrichtsfächern. Das Gros der Chorarbeit wurde von älteren Schülern koordiniert, nur die Figuralmusik lag fest in seiner Hand. Regelmäßige Kompositionen – etwa für jeden Sonntag – wurden vom Kreuzkantor nicht erwartet. Nur einzelne Amtsinhaber wie Michael Lohr oder Gottfried August Homilius erlangten durch eigene Werke überregionale Aufmerksamkeit.

Die Fülle der Anforderungen bei schlechter Bezahlung veranlasste viele der universitär ausgebildeten Kollegen das Kantorat lediglich als Durchgangsstation in ein besser angesehenes und dotiertes Pfarramt zu betrachten. Erst seit dem späten 18. Jahrhundert konzentrierten sich die Aufgaben des Kantors auf die Musik. Doch schon bald hatte er in einer deutlich veränderten musikalischen Umwelt sich neu zu definieren. Neben ihrem kirchlichen Knabenchor übernahmen die Amtsinhaber dann weitere Ensembles oder komponierten Werke für den Konzertsaal und die Opernbühne.

Bei allen Veränderungen des Amtes - der Kantor schrieb: Musik, aber auch Aufsatzkorrekturen, Empfehlungen, Eingaben, Pläne ...

Heinrich Schütz

Als der Dresdner Hofkapellmeister Heinrich Schütz seine Geistliche Chormusik, eines der zentralen Werke des 17. Jahrhunderts, veröffentlichte, widmete er den Druck Leipzigs „berühmten Chore“, dem Thomanerchor. So selbstverständlich Zueignung und Lob erscheinen, stellt sich doch die Frage nach Schütz‘ Verhältnis zum heimischen Chor: Widmungen an den Kreuzchor fehlen ebenso wie andere Zeichen einer offiziellen Aufmerksamkeit.

Seine Musik jedoch gehört zum Repertoire des Chores: Johann Zacharias Grundig, Tenorist der Hofkapelle und seit 1713 Kreuzkantor, schrieb die Passionen Schütz‘ ab, um sie ins Programm der Kruzianer zu übernehmen (und sicherte so ihre Überlieferung).

Seit 1890 führte Kreuzkantor Friedrich Oskar Wermann Schütz-Kompositionen regelmäßig in den Vespern auf. Im 20. Jahrhundert beteiligte sich der Chor maßgeblich an der Gestaltung verschiedener Schützfeste und legte zentrale Einspielungen vor. Schütz geriet so zunehmend zur historischen Identifikationsfigur für den Kreuzchor. Schließlich stiftete Rudolf Mauersberger in der Kreuzkirche sogar eine Schützkapelle. Wird damit dem protestantischen Meister in Dresden schlicht ein angemessener Platz verliehen?

Der Kreuzkantor als Pädagoge

Seit der Reformation wurde das Lehrprogramm der Kreuzschule in Lektionsplänen festgeschrieben, die bis zum frühen 19. Jahrhundert zwar immer wieder organisatorisch modifiziert wurden, inhaltlich aber eine hohe Kontinuität aufwiesen. Der fest in das Lehrerkollegium eingebundene Kantor übernahm neben den musikpraktischen Übungen und der musiktheoretischen Unterweisung Unterrichtsstunden in Latein, Griechisch und Theologie. Grundlage des Unterrichts waren im protestantischen Deutschland fest etablierte Lehrbücher, die kontinuierlich neue Auflagen erfuhren.

Im Jahr 1791 stellte Christian Ehregott Weinlig den Antrag, vom Schulunterricht befreit zu werden. Auch wenn die Genehmigung zunächst nur für seine Person erteilt wurde, waren damit de facto die außermusikalischen Lehrverpflichtungen für die Kreuzkantoren aufgehoben. Im 19./20. Jahrhundert hatten die Kantoren unterschiedliche pädagogische Interessen. So legte der zeitweilige Kreuz- und spätere Leipziger Thomaskantor Christian Theodor Weinlig verschiedene musikpädagogische Werke vor und widmete sich ausgiebig dem musikalischen Einzelunterricht.

Der Kreuzkantor als Organisator

Im 19. Jahrhundert entstanden auch in Dresden zahlreiche Chorvereine und eröffneten dem Kreuzchor ein neues Betätigungsfeld. Neben dem Kirchendienst nahmen die Kruzianer an bürgerlich geprägten großdimensionieren Chorereignissen der Stadt teil – vom Konzert zu Ehren eines Mitglieds des Königshauses bis hin zum Bürgerfest im Großen Garten.

Um den Chor bei zunehmender Konkurrenz zu profilieren, entwickelte Oskar Wermann die Kreuzchorvespern weg von rein liturgischen hin zu kirchenmusikalischen Veranstaltungen mit zeitweilig 4.000 Besuchern, Einheimischen wie Touristen. Dass ab 1889 regelmäßig Vesper-Programme gedruckt wurden, zeigt, dass die Veranstaltungen zwar in der Kirche stattfanden, aber den Charakter von Konzerten trugen. Wie andern Orts auch wurde in ihnen systematisch alte Musik erschlossen und neben der Pflege Schützscher Werke etablierte Wermann eine, gegenüber anderen Städten verzögerte, Bach-Tradition.

Wollten einige Stadtväter noch 1874 das Alumnat schließen, so gelang dem Kreuzchor um 1900 der Durchbruch zum Konzertchor mit überregionaler Strahlkraft. Kaum erforscht sind Gründe und Bedingungen dieses Erfolges, sicher befeuerten ihn in den folgenden Jahrzehnten aber Reisen und Rundfunk- bzw. Schallplattenaufnahmen und: Er dauert bis heute an.

Der Kreuzchor und die Welt

Seit dem 20. Jahrhundert erweitert der Kreuzchor durch Reisen seinen Wirkungskreis. In der Rolle des "Kulturbotschafters" ist sein Handeln dann im- oder explizit politisch. Dies gilt für die ersten Reisen unmittelbar nach dem ersten Weltkrieg ins offiziell neutrale, aber Deutschland nahestehende Schweden und in die Niederlande genauso wie für die USA-Tourneen der dreißiger Jahre oder die West-Reisen der DDR-Zeit. Dabei werden nicht nur Botschaften ins Zielland gesendet, sondern, medial begleitet, auch in die Heimat rückgespiegelt. Umso interessanter ist die Zusammenstellung der Konzertprogramme für die Reisen - wer will wem warum welches Bild vermitteln?

Besonders fragwürdig dürften Konzerte und Konzertprogramme in politisch aufgeladenen Kontexten sein. So wurde beispielsweise wohl in Abstimmung mit dem Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda eine für 1943 geplante Konzertreise in die Niederlande nach Oberschlesien umgelenkt, wo die Kruzianer unter anderem in verschiedenen Fabriken der Kriegsindustrie, so auch bei der IG Farben Auschwitz, auftraten.

Die Auseinandersetzung mit Fragen nach der politischen Funktion des Chores verspricht nach wie vor Erkenntnisse, die das Bild von Chor und Kantor zwar schattieren, damit aber auch bereichern werden.

Identitätsversicherung durch Jubiläen

1866 feierte die Kreuzschule den Umzug in ihr neues Gebäude am Georgplatz. Mangels anderer verlässlicher Daten wurde dieser Tag zum Bezugspunkt der Kruzianer und seine 25. Wiederkehr 1891 festlich begangen. Zufällig traf das Datum mit der runden Jahrfeier der überlieferten Ersterwähnung Dresdens zusammen. Ein kleiner Schritt war es nur vom Gebäude- zum Schul- zum Chorjubiläum. Spätestens 1926 geriet der Jahrestag zur Veranstaltung, die Schule, Kirche und Chor gleichermaßen umfasste und deren bis in die Anfänge Dresdens zurückreichende Geschichte betonte. Argumentiert wurde von nun an wahlweise mit 1206, 1216 oder 1234 als Gründungsdaten einer Institution, die mal Kreuzkirche, mal Kreuzschule, mal Kreuzchor meinte und so entsprechende 725-, 750-, 775- und 800-jährige Jubiläentypo3/motivierte. Damit vergewisserte sich nicht zuletzt der Chor seiner Identität auf mehreren Ebenen: Das Wissen um die Herkunft gab Orientierung, das gemeinsame Feiern bekräftigte das Bestehende. Die individuelle Identität konnte durch kollektives Erinnern und gemeinsame Erlebnisse am Bezugspunkt Chor ausgerichtet, die institutionelle Identität durch die jeweils gewählte Erzählung von sich selbst (so in Festschriften oder Auftragswerken) nachhaltig stabilisiert werden.