Der deutsche Michel – ein invektives Autostereotyp

Sonja Engel: Kat. Nr. 15–17

Der deutsche Michel ist populäre Verkörperung von Klischees des Deutschen. Man begegnet ihm in Karikaturen, Bildwitzen und humoristischen Texten. Bekannt ist die Michel-Figur seit dem 16. Jahrhundert, doch erhält sie erst im 19. Jahrhundert ihre bis heute bekannte Gestalt (vgl. Szarota 1998). Geprägt wurde sie von gesellschaftskritischen Künstlern in der Zeit des Vormärz, welche die Deutschen als spießbürgerlich, schwerfällig und passiv – insbesondere bezüglich ihres politischen Engagements – darstellen. Die politische Brisanz dieser autoinvektiven Michel-Figur erklärt sich vor dem Hintergrund des Bestrebens, die fürstlichen Kleinstaaten durch einen demokratischen und souveränen Nationalstaat zu ersetzen. Humoristisch-spöttische Anspielungen auf nationale Stereotype wie die vermeintlich typisch deutsche Trägheit sollten Gemeinschaftssinn und Gestaltungswillen aktivieren, aber auch auf aktuelle Missstände hinweisen.

Die Karikaturen Johann Richard Seels von 1842 (Kat. Nr. 15) haben den deutschen Michel in diesem Sinne bekannt gemacht (vgl. Soiné 1998). Das aktuelle Beispiel thematisiert über das Motiv des schlafenden Michels die unterstellten Feindseligkeiten der Nachbarstaaten. Zur Linken lässt ihn ein österreichischer Adliger, wahrscheinlich Metternich, zur Ader, rechts zerrt ein Franzose an ihm, wodurch die französischen Ansprüche auf das Elsass symbolisiert werden. Die das britische Empire repräsentierende Dogge stiehlt ihm einen Geldbeutel, während ihn ein Russe umschmeichelt und der Papst im Hintergrund erbost den Petrus-Schlüssel hebt. Die Soldaten des Heeres des deutschen Bundes im Hintergrund scheinen konsterniert, intervenieren jedoch nicht. Das Schloss an Michels Mund verweist auf die Zensur, die Zahlen auf seinem Lätzchen auf die 36 Fürstentümer, in die Deutschland aufgeteilt war. Michels Rolle als Opfer erscheint bemitleidenswert, aber selbstverschuldet. Mit ihr verbindet sich der Appell an die in der Michel-Figur personifizierte deutsche Bevölkerung, ‚aufzuwachen‘ und eine aktivere Rolle einzunehmen. Die Herkules-Keule deutet an, dass sie die Möglichkeit dazu hätte.

Mit der Ambivalenz von Opfer- und potenziellem Kämpfertum spielt auch eine Karikatur aus dem Eulenspiegel (Kat. Nr. 16), verkehrt den Appell aber in einen Vorwurf: Im Verlaufe des Revolutionsjahres 1848 habe sich der deutsche Michel von einem zunächst wild entschlossenen Wüterich in einen schlaffen Biedermann gewandelt. Diese Transformation zeigt sich nicht nur im Gesichtsausdruck, sondern auch in der Kopfbedeckung. An Stelle der auf die Französische Revolution verweisenden Jakobinermütze trägt er nun eine Schlafmütze.

Das Wiegenlied aus dem Simplicissimus des späten 19. Jahrhunderts (Kat. Nr. 17) ist nur ein Beispiel unter vielen, dass der schlafende Michel als Signum deutscher und insbesondere deutsch-spießbürgerlicher Passivität dominant bleibt. Dieses satirische Gedicht von Ludwig Thoma (veröffentlicht unter dem Pseudonym Peter Schlemihl) singt Michel gleich einem Kinde in den Schlaf und ermahnt ihn, der starken Hand des Vaters zu folgen und ein guter Untertan zu sein. Die lautmalerischen Wiederholungen des Refrains lullen ihn in seiner Unmündigkeit ein.

Doch signalisieren Karikatur wie Satire erneut Kritik an bestehenden politischen Verhältnissen und formulieren einen indirekten Appell an die Leser*innen, diese zu ändern. Bereits von Seel sind humoristische Darstellungen bekannt, die einen jungen und agilen Michel zeigen, keulenschwingend und furchtlos; eine Variante, die während des Ersten Weltkrieges propagandistisch eingesetzt wurde. Ob nun in der positiven oder negativen Deutung – die über die Michel-Figur kommunizierten Autostereotype dienen der Kollektivbildung und Mobilisierung, und das bis heute.

Literatur

Knut Soiné: Johann Richard Seel. Der Zeichner des Deutschen Michel, Bremen 1998. 

Tomasz Szarota: Der deutsche Michel. Die Geschichte eines nationalen Symbols und Autostereotyps, Osnabrück 1998.