Zwischen den Welten: Ausgrenzung (post-)kolonial

Franziska Teckentrup, Gabriel Deinzer: Kat. Nr. 4–6

Im Theater, in der Tram, auf der Straße: wohin ich auch ging, ich fühlte mich wie ein Studienobjekt, erforscht mit Augen und Worten.

Der Roman Timira. Romanzo Meticcio von Wu Ming 2 und Antar Mohamed aus dem Jahr 2012 (Kat. Nr. 4) thematisiert die italienisch-somalische Kolonialgeschichte und ihre Langzeitwirkung anhand der Familiengeschichte seiner Protagonistin und Mutter des Autors Antar Mohamed. Erzählt wird das Leben von Isabella Marincola (*1925), Tochter eines italienischen Marschalls und einer Somalierin. Gemeinsam mit ihrem Bruder Giorgio wächst sie in Italien bei der Familie des Vaters auf. In den 1960er Jahren kehrt sie jedoch nach Somalia zurück, wo sie bis zum Ausbruch des Bürgerkrieges 1991 unter dem Namen Timira Assan lebt. Die bereits im Titel akzentuierte Namensänderung weist auf die im Roman verarbeiteten Identitäts- und Zugehörigkeitsproblematiken hin. Die bürokratischen Schwierigkeiten, mit denen sie sich in Italien konfrontiert sieht, lassen sie zu einer „Geflüchteten im eigenen Land“ werden. Ihre Ortswechsel führen zu stark veränderten Fremdzuschreibungen: Die Stigmatisierungen und die damit verbundenen Exklusionen, denen sie – obgleich in unterschiedlicher Gestalt und Ausprägung – in beiden kulturellen Kontexten begegnet, steigern ihr Fremdheitsgefühl zu einer omnipräsenten Empfindung, durch die ihr Leben wesentlich geprägt bleibt. Das Infragestellen ihrer Identität wird zu einer existenziellen Grenzerfahrung, welche den Rezipient*innen über die Darstellung des subjektiven Empfindens der Protagonistin nahegebracht wird.

Faktuales und fiktionales Erzählen durchdringen einander, wenn historische Archivmaterialien, Dokumente und Fotografien mit persönlichen sowie kollektiven Erinnerungen verknüpft werden (Kat. Nr. 5; 6). Der Roman ist Teil eines transmedialen Projekts, das online zur Verfügung gestellte Materialien wie Interviews und Bilder von Akteur*innen und Schauplätzen miteinschließt – auf diese Weise erfährt man etwa von Isabellas Bruder, einem Partisanen im Zweiten Weltkrieg, seinerseits Protagonist des RomansRazza Partigiana (2008) von Lorenzo Teodonio und Carlo Costa.

Damit erweist sich der Roman Timira als ein „sozialer Begegnungsort“ (Koschorke 2012), an dem italienische Kolonialgeschichte sowie die mit ihr einhergehenden Ächtungs- und Ausgrenzungsphänomene verhandelt werden. Der Aushandlungscharakter verstärkt sich in der transmedialen Ausweitung des Romanprojekts, durch die der Themenkomplex Kolonialismus und Immigration in weiterreichende gesellschaftliche Kommunikationsräume eingespeist wird. Der literarische Text erweist sich als Medium, das es ermöglicht, in der kolonialen Vergangenheit wurzelnde Formen von Invektivität sichtbar zu machen.

So zeigt er, wie ein weißer männlicher Blick der Protagonistin immer wieder eine „natürliche“ sexuelle Verfügbarkeit unterstellt. Eine Annahme, die mit der Vorstellung von der Primitivität Somalias und seiner Bewohner*innen einhergeht. Diese Degradierung zum exotisierten Sexobjekt, die Stereotypisierung als „bella abissina“ aufgrund ihrer ostafrikanischen Teilherkunft, offenbart das invektive Zusammenspiel von Rassismus und Sexismus, dem das weibliche (post-)koloniale Subjekt ausgeliefert ist. In Somalia wiederum wird Isabella Marincola als „Ungläubige“ und als vermeintliche Vertreterin der ehemaligen Kolonialmacht geschmäht. Je nach Bezugsrahmen fungiert also ein anderer Aspekt ihrer „gemischten“ Identität als Referenzpunkt der Zuschreibung von herabsetzenden Eigenschaften. Die allseitigen Ausgrenzungen machen sie zu einer Person ohne Zugehörigkeit.

Ma come si fa a essere profughi nello stesso paese dove si è cittadini residenti? È come essere ospiti a casa propria, come mettersi le mutande sopra i pantaloni. O non sei davvero profuga (ma la branda dove stai sdraiata suggerisce il contrario) oppure non sei cittadina (ma allora il governo italiano ti avrebbe lasciato crepare in Somalia). Quindi, che cosa sei?

Wie kann man denn Geflüchtete in dem Land sein, in dem man als Staatsangehörige gemeldet ist? Das ist, als wäre man Gast im eigenen Haus, als würde man die Unterhose über die Hose ziehen. Entweder bist du nicht wirklich eine Geflüchtete (aber die Pritsche, auf der du liegst, suggeriert das Gegenteil) oder du bist keine Staatsangehörige (aber dann hätte man dich in Somalia krepieren lassen). Also, was bist du?

Antar Mohamed und Wu Ming: Timira. Romanzo meticcio, Turin: Einaudi, 2012, S. 459. Übersetzung: Franziska Teckentrup und Gabriel Deinzer.

 

Literatur

Albrecht Koschorke: Wahrheit und Erfindung. Grundzüge einer allgemeinen Erzähltheorie, Frankfurt a. M. 2012.