Codex Boernerianus – Gemeinsame Forschung an den Paulusbriefen

Diese eigentümliche griechisch-lateinische Abschrift der Paulusbriefe aus dem 9. Jahrhundert ist lange von der neueren Forschung ignoriert worden. Dabei erlauben digitale Erschließungs- und Analysemethoden einen Vergleich mit zwei anderen, eng verwandten Handschriften – auf diese Weise gibt das Schriftstück einen äußerst interessanten Einblick in die Textgeschichte bis ins 3. Jahrhundert. In dieser Forschungsarbeit kollaboriert das SLUB TextLab mit der LMU München.

Codex Boernerianus (in der Forschung als „G“ oder „012“ bekannt) ist in mehrfacher Hinsicht ein außergewöhnlicher Zeuge der neutestamentlichen Paulusbriefe:

  • Im relativ kleinen Buch – es misst lediglich 25 x 18 Zentimeter – stehen über den Zeilen mit dem fortlaufenden griechischen Text auf einer separaten Zeile über fast jedem Wort eine, manchmal bis zu drei Entsprechungen in lateinischer Sprache.
  • Zudem weist der Text zahlreiche interessante Lesarten auf. Allein im Römerbrief fehlen zum Beispiel ein Großteil der ersten fünf Verse sowie die letzten drei Verse. Dies ist kein Versehen des Kopisten, denn er ließ extra Platz, um den vermeintlich fehlenden Text zu einem späteren Zeitpunkt nachtragen zu können.
  • Hinzu kommt noch ein Sachverhalt, der in der neutestamentlichen Handschriftentradition ein bemerkenswerte Ausnahme darstellt: Gemeinsam mit Codex Claromontanus (in der Forschung „D“ oder „06“ genannt) aus dem 6. Jahrhundert und Codex Augiensis („F“ oder „010“), ebenfalls aus dem 9. Jahrhundert, sind drei alte, zweisprachige Paulusbrief-Handschriften erhalten, deren Abhängigkeitsverhältnisse deutlich bestimmbar sind. So wurde schon Ende des 19. Jahrhunderts erkannt, dass F und G eine gemeinsame Vorlage „X“ gehabt haben müssen. Und Codex D soll wiederum auf Basis einer mit „X“ gemeinsamen Vorlage „Z“ entstanden sein.

Digitale Erschließung des außergewöhnlichen Werks

In den vergangenen Jahren hat die SLUB gemeinsam mit Mitarbeitenden und Studierenden der Professur für Biblische Theologie am Institut für Evangelische Theologie der TU Dresden mehrere Workshops zur digitalen Erschließung und textkritischen Analyse des Textes von Codex Boernerianus durchgeführt.

Darauf aufbauend arbeiten das SLUB TextLab und der Lehrstuhl für Neues Testament und griechisch-römische Kultur an der LMU München aktuell gemeinsam an einem ambitionierteren Ansatz. Dieser soll am Beispiel des Galaterbriefes durch dessen digitale Vollerschließung in den erwähnten drei Paulushandschriften einen textkritischen Vergleich ermöglichen. Zudem erhoffen sich die Beteiligten dank der Zusammenführung traditionell-philologischer und digitaler Methoden bessere Einblicke in die Textgeschichte bis ins 3. Jahrhundert.

Im Zuge dieser Arbeit wird der Text jeder Handschrift zunächst Wort für Wort abgetippt – und zwar so, wie er in der Handschrift steht. Alle relevanten graphischen Eigenschaften des Textes (etwa Zeilenumbrüche, auffällig anders geschriebene Buchstaben oder Korrekturen) werden dabei in der Auszeichnungssprache TEI-XML vermerkt. Die so erschlossenen Texte können die Forschenden dann sowohl traditionell als auch mithilfe von Computerprogrammen kollationieren, sprich vergleichen. Ungewöhnlicherweise spielen in diesem Vergleich auch die grafischen Eigenschaften und eigentümlichen Schreibweisen der Handschriften eine besonders wichtige Rolle. Denn genau diese haben sich als außerordentlich wichtige Hinweise auf das Abstammungsverhältnis der Handschriftentexte erwiesen und lassen Rückschlüsse darauf zu, wer wen kopiert hat.

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