Twitterstürme

Sabine Müller-Mall: Kat. Nr. 65

Sozialen Medien wird zugeschrieben, erhitzte Debatten, aber auch Hasskommunikation in besonderer Weise zu ermöglichen: Facebook oder Twitter sind leicht zugänglich, erlauben eine schnelle Verbreitung von Äußerungen, die regelmäßig unmoderiert sind. Zwar sperren die meisten sozialen Medien hin und wieder einzelne Beiträge oder Nutzerinnen. Die Untersuchung von Äußerungen im Hinblick auf die Frage, ob sie den Regeln und Standards der Netzwerke (nicht der rechtlichen Ordnungen) widersprechen, erfolgt allerdings typischerweise durch Algorithmen. Dadurch ist es angesichts des gegenwärtigen Stands der technischen Möglichkeiten automatisierter Texterkennung (noch) vergleichsweise unkompliziert, potenziellen Sperrungen zu entkommen.

Auf diese Weise bieten soziale Medien die Möglichkeit, schnell und einfach jede Art von Äußerungen einer großen Öffentlichkeit zugänglich zu machen, oder entsprechende Öffentlichkeiten mit den Äußerungen überhaupt erst zu erzeugen. Gerade Twitter, das mit seiner auf 280 Zeichen begrenzten Form eine schnelle Lesbarkeit verspricht, wird deswegen für vielfältige Äußerungen genutzt: Wissenschaftler*innen informieren über ihre Forschung, Journalist*innen über ihre Veröffentlichungen, Politiker*innen machen Ihre Arbeit ohne Vermittlung durch Presse und Rundfunk publik, Privatpersonen notieren Beobachtungen, kleine Witze oder teilen Momente ihres Lebens. Immer wieder entwickeln sich Diskussionen, ein Großteil der Äußerungen bleibt allerdings unkommentiert und verschwindet entsprechend der algorithmischen Anordnung von Sichtbarkeit auf der Plattform, die sich wesentlich an Aufmerksamkeitspotenzialen orientiert. Diese Potenziale, so die in der Struktur von Twitter angelegte Annahme, zeigen sich entlang von „Gefällt mir“-Angaben, Retweets und Antworten, die für jede Äußerung quantitativ erfasst und angezeigt werden.

Weil invektive Äußerungen größere Aufmerksamkeit und größere Resonanz als gemäßigte Meinungs- oder bloß informative Äußerungen versprechen, bietet Twitter, wie andere soziale Netzwerke auch, einen besonders fruchtbaren Resonanzboden für Invektivität – anders gesagt: Soziale Medien ziehen herabsetzende Kommunikation an. Für Konstellationen, in denen beleidigende Äußerungen, verächtliche oder bloßstellende Kommentare und Hassbotschaften sich nicht vereinzelt, sondern in dynamischen kommunikativen Verläufen zeigen, hat sich der Formbegriff „Twittersturm“ entwickelt.

Anders als Stürme in der Natur, „Sturmwindereignisse“, die aus der Konzentration von Winden oder durch große Druckunterschiede entstehen, sind Twitterstürme keine unwahrscheinlichen, sondern ziemlich häufig eintretende Ereignisse. Sie verlaufen allerdings, das Beispiel des Hashtags #Altmaier (Kat. Nr. 65) zeigt dies an, keineswegs so geradlinig und konzentriert wie naturgewaltige Stürme. Kommunikative Verläufe, die auf Twitter im Zusammenhang mit einem Sturz des Bundeswirtschaftsministers bei einer Veranstaltung im Oktober 2019 sichtbar werden, illustrieren die kurvige Dynamik solcher Kommunikationsprozesse in sozialen Netzwerken: Nicht Schmähgemeinschaften, sondern viele einzelne, nur selten aufeinander bezogene, aber über die gemeinsamen Bezugspunkte verbundene Äußerungen bilden den Twittersturm. Die Nutzer*innen agieren in einer Doppelrolle als Rezipienten und Autor*innen. Viele Äußerungen stehen nebeneinander. Wenn sie sich unmittelbar aufeinander beziehen, wird typischerweise die Verhandlung von Invektivität selbst zum Gegenstand. Der Abbruch eines Verlaufs erscheint jederzeit möglich, muss aber nicht notwendig eintreten – keine Eskalation und auch keine Einhegung beenden die Dynamik, sondern vermutlich lediglich: dass die Beteiligten sich anderen Hashtags zuwenden. Die Gewalt von Twitterstürmen zeigt sich vorwiegend im herabsetzenden Gehalt der einzelnen Äußerungen und in ihrer Häufung. Entscheidend für die Wahrnehmung als Twittersturm ist die Weise der Rezeption: schnelles scrolling lässt einen Verlauf als möglicherweise unterhaltsame oder geschmacklose, jedenfalls als kurzweilige Spur invektiver Kommunikation verfolgen, während gerade eine langsame, genaue Lektüre eine andere Wahrnehmung herausfordert – jene eines Sturmes, der über einzelne Menschen und soziale Konventionen hinwegfegt und eine Schneise invektiver Verwüstung hinterlässt. Die Audio-Installation mag diese zweite Weise der Wahrnehmung illustrieren.