Sachsenspott und Kaffeepott – Der Partikularist Fritz Bliemchen

Sonja Engel und Katharina Lerch: Kat. Nr. 72–75

Die humoristische Kunstfigur Fritz Bliemchen sächselt und frönt dem Kaffeegenuss. Von den Brüdern Gustav und Paul Schumann entwickelt, war sie ab 1878 Gegenstand populärer Erzählungen (Kat. Nr. 72) und beliebtes Postkartenmotiv (Kat. Nr. 73). Bliemchen steht für den heimatverliebten Dresdner, der aus Neugier immer wieder verreist (Kat. Nr. 74) und doch keinen Ort entdeckt, der dem Elbflorenz an Schönheit gleichkäme. Mit Bliemchens Überhöhung regionalspezifischer Klischees wird die politische Mentalität des Partikularismus, das heißt die Höherbewertung der regionalen gegenüber einer nationalen Identität, ironisiert. Auch greift der Name der Figur das bekannte Stereotyp vom armen Kaffeesachsen auf, dessen Kaffee so dünn sein soll, dass man die Blumen des Dekors am Tassenboden erkennen könne.

Die Figur des Bliemchen stieß auf geteilte Resonanz, die von Hochschätzung bis zum Ruf nach Verboten reicht (vgl. Schramm 2002: 93-102). Sie ist ein interessantes Lehrstück dafür, wie unklar letztlich der Grenzverlauf zwischen Humor und Herabsetzung ist. So sind die Erzählungen von Zeitgenossen oft satirisch gedeutet worden. Ganz allgemein würden sie verbreitete partikularistische Haltungen und spießbürgerliche Verhaltensweisen karikieren. Die Beliebtheit der Bliemchen-Figur unter den Einwohner*innen Sachsens gilt dieser Lesart zufolge als Ausweis von Selbstironie und Humor. In einem Beitrag der Leipziger Illustrirten Zeitung von 1887 heißt es, die Bliemchen-Erzählungen „durchweht ein so frischer, urwüchsiger, sonniger Humor, daß vor ihm die schlechteste Laune die Segel streichen muss“, und dass den Autoren dafür zu danken sei, in dieser „sorgenschweren Zeit“ ein „gesundes, herzliches Lachen“ hervorzurufen (Illustrirte Zeitung 1887: 215).

Ein Artikel in den Mitteilungen des Vereins für sächsische Volkskunde von 1903 (Kat. Nr. 75) dagegen qualifiziert Bliemchen als ein „Zerrbild widerwärtiger Art“ (Roscher 1903: 69). Dieser Interpretation zufolge ist die Bliemchen-Literatur Ausdruck fehlender Selbstachtung derjenigen Sachsen, die sie konsumieren. Von den Kritikern wird unterstellt, dass das Publikum die satirischen Elemente nicht verstehen würde und es die Bliemchen-Figur deshalb für eine getreue Verkörperung des „typischen“ Sachsen halten muss.

Die Bliemchen-Erzählungen reihen sich in jenen Teil sächsischer Mundartdichtung ein, der bis in die 1930er Jahre spezifisch sächsische Eigenheiten, unter anderem den Kaffee und das ‚Titschen‘, also das Tunken von Gebäck in den Kaffee, auf humoristische Weise thematisiert. In den 1920er Jahren waren Hans Reimann und Lene Voigt mit ihren Werken ebenfalls der Kritik ausgesetzt, sie würden Sachsen schmähen und verhöhnen. Mit der Machtausbreitung der Nationalsozialisten wurde die Deutung, es handle sich bei Bliemchen um eine Herabsetzung Sachsens, zur staatlichen Doktrin. Ab 1936 ging das nationalsozialistische Heimatwerk Sachsen gegen die Bliemchen-Literatur vor, indem sie diese aus öffentlichen Bibliotheken entfernte und die Verbreitung von humoristischen sowie kabarettistischen Darstellungen des Sächsischen einzuschränken versuchte (Schramm 2002: 97–98).

Literatur

Dr. Roscher: Gegen die „Bliemchen“-Literatur, in: Mitteilungen des Vereins für sächsische Volkskunde 3, 3 (1903), S. 69–70.

Manuel Schramm: Konsum und regionale Identität in Sachsen 1880–2000. Die Regionalisierung von Konsumgütern im Spannungsfeld von Nationalisierung und Globalisierung, Stuttgart 2002.

Stß [Pseudonym]: Zwei leipziger Humoristen, in: Leipziger Illustrirte 89, 2304 (27.08.1887), S. 215.