Hamletismus: Mythos und Provokation

Anna Häusler: Kat. Nr. 25–28

Shakespeares Theaterstück Hamlet (Kat. Nr. 26), die tragische Verstrickung von Mord, Wahnsinn und Rache und die sprichwörtlich gewordene Frage nach dem Sinn des Lebens, hat seine Titelfigur zu einem zeitlosen Mythos gemacht, der immer wieder neu aufgeladen, herausgefordert, provoziert werden kann.

Herbert Fritsch, Regisseur, Schauspieler und Medienkünstler sowie Sabrina Zwach, Dramaturgin, Autorin und Kuratorin, haben sich diesen Hamlet vorgenommen und zu sich selbst in Bezug gesetzt, um dessen allgegenwärtig gewordenen Mythos aus heutiger Perspektive neu zu ergründen. Das intermediale Projekt hamlet_X splittert Shakespeares Stück in 111 Szenen auf und kreiert in bildrauschhaften Übermalungen ein „Theater im Buch“.

Auf einer Reise zu Hamlets Schauplätzen von Wittenberg nach Helsingör sind Bilder und Texte entstanden, die von den Künstlern digital manipuliert und zu einer modernen Hamlet-Ikonographie umgearbeitet wurden. Der Grenzgang zwischen den Künsten – Theater, Buch, Zeichnung, Text, Comic –, durch verschiedene Genres und Medien hindurch, lässt eine obsessive, absurd-komische Körperlichkeit entstehen, die einen primär sinnlichen Zugang zu Hamlet ermöglicht. Das hamlet_X-Projekt bietet dabei keine weitere Interpretation, sondern vielfältige Ein- und Ausstiege in das und aus dem Hamlet-Dilemma. Jenseits üblicher Lesarten wird Hamlet für den subjektiven Blick des Betrachters geöffnet. Das Bild, das jede und jeder von der Titelfigur im Kopf hat, wird dabei ständig befeuert und zugleich aufgebrochen oder durchgestrichen. Hamlet kann nicht mehr auf einen Punkt gebracht werden, sondern splittert sich in unzählige alltägliche Hamlet-Erfahrungen auf, die den Betrachter bildwirksam spiegeln.

Die genuine Erfahrung des „Hamletismus“, die „radikale und gewollte Gleichzeitigkeit von Sein und Nichtsein“ (Szene 96), kommt dabei nicht ohne die Erfahrung des Beleidigt- und Gekränktseins aus und wird vielleicht sogar zu ihrem Motor. Die ausgewählten Szenen 62 (Kat. Nr. 27) und 63 (Kat. Nr. 28) nehmen sich daher den ‚Arsch‘ von Hamlet vor: ein provokanter, herabsetzender wie herabgesetzter Körperteil, der als zweites Gesicht präsentiert wird. So wird er dem Betrachter hingehalten bzw. angeboten als ein Zugang zum eigenen Kämpfen und Scheitern an der Aneignung von Welt und der – unerreichbaren – Macht über sich selbst.

Die Einteilung in 111 Szenen, die Hamlet neu ordnen und umschreiben, findet sich außerdem in einem „Buch im Buch“ wieder (Kat. Nr. 29), das die Übersetzung von Christoph Martin Wieland auf die nummerierten Übermalungen bezieht.

hamlet_X gehört zu Herbert Fritschs intermedialen Kunstprojekten, das von Kurzfilmen (2003-2008) über ein „Theater im Buch“ (2007) und eine Installation (Ruhr Triennale 2006) immer wieder neue Gestalt angenommen hat. Sabrina Zwach kommt in der zweiten Phase des hamlet_X-Projekts als Autorin, Künstlerin, Gesellschafterin und Kuratorin dazu.