Zwei mittelalterliche Codices aus dem Kloster St. Marienthal

Anlässlich des Ankaufs des Altbestandes der Bibliothek des Zisterzienserinnenklosters St. Marienthal werden die älteste und die prächtigste von insgesamt acht mittelalterlichen Handschriften ausgestellt.

Das Zisterzienserinnenkloster St. Marienthal, an der Neiße nahe Görlitz gelegen, wurde 1234 gegründet. Es ist das älteste ununterbrochen mit einem Konvent besetzte Kloster des weiblichen Zweiges des Zisterzienser-Ordens im deutschsprachigen Raum. Zum Kloster gehört auch eine wertvolle Bibliothek – eine geschlossene, seit dem Spätmittelalter gewachsene Sammlung klösterlicher Bildungskultur und herausragender historischer Quellen. Sie wird seit 1752 in einer prachtvollen Saalbibliothek aufbewahrt, die als der einzige reich ausgestattete barocke Bibliotheksraum in einem Frauenkloster im deutschsprachigen Gebiet gilt. 2023 konnte der Freistaat Sachsen mit finanzieller Unterstützung der Ernst von Siemens Kunststiftung die historischen Bestände der Klosterbibliothek erwerben und dieses einzigartige sächsische Kulturerbe somit dauerhaft für die Öffentlichkeit sichern. Von herausragender Bedeutung innerhalb der Sammlung sind acht mittelalterliche Buchhandschriften (Codices). Sie wurden 2016 im Handschriftenzentrum der Universitätsbibliothek Leipzig in einem von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Projekt wissenschaftlich erschlossen und im Rahmen des sächsischen Landesdigitalisierungsprogramms der Öffentlichkeit digital zugänglich gemacht.

Die älteste und die prächtigste der St. Marienthaler Handschriften werden vom 6. Dezember 2023 - 6. Januar 2024 in der 
Schatzkammer des Buchmuseums der SLUB
 präsentiert. Beide stammen ursprünglich aus dem Besitz des Zisterzienserklosters Altzelle bei Nossen, das seit 1190 Grablege der Wettiner und bis zu seiner Aufhebung 1540 das bedeutendste Kloster im heutigen Sachsen war.

Mackert, Christoph: Die Klosterbibliothek von St. Marienthal. Ein Sammelbecken von über 700 Jahren Kulturgeschichte Sachsens und der Oberlausitz (Blog-Beitrag vom 7. Juni 2022)
Pressemitteilung vom 6. Dezember 2023
Flyer
Digitalisate der St. Marienthaler Handschriften

St. Marienthaler Psalter

Handschrift auf Pergament (190 Blatt)
Franken, erstes Drittel des 13. Jahrhunderts
SLUB, St. Marienthal F 5/31
Erworben mit Hilfe der Ernst von Siemens Kunststiftung

Diese Prachthandschrift wurde im ersten Drittel des 13. Jahrhunderts im fränkischen Raum, vermutlich für den Gebrauch einer adligen Dame gefertigt. Der Codex enthält neben den 150 Psalmen einen Kalender, Cantica (biblische Lobgesänge), eine Litanei (Heiligenanrufungen), Mariengebete und Privatandachten. Die Psalmen bilden seit dem frühen Mittelalter die Grundlage für das klösterliche, kirchliche und private Stundengebet.

Der St. Marienthaler Psalter wurde von zwei Schreibern in frühgotischer Minuskel geschrieben und enthält Buchschmuck in Deckfarben und Gold von außerordentlich hoher Qualität. Die Texte werden von elf teilweise figürlich belebten Rankeninitialen und zahlreichen Goldinitialen eingeleitet. Den zwölfseitigen Kalender am Anfang der Handschrift schmücken Tierkreiszeichen, deren Namen von halbfigurigen Männern auf Schriftbändern präsentiert werden.

Sieben ganzseitige Miniaturen zeigen – jeweils auf goldenem Hintergrund – Aaron (aufgeschlagene Seite in der Vitrine), die Taufe Christi, die erste Versuchung Christi, Moses vor dem brennenden Dornbusch, die Gefangennahme und Kreuzabnahme Christi sowie Christus auf dem Thron.

Der Psalter gelangte vermutlich noch im 14. Jahrhundert als fromme Stiftung aus dem Besitz eines Vasallen des Burggrafen von Meißen in das Zisterzienserkloster Altzelle.

Der Holzdeckeleinband mit blindgeprägtem Kalbslederbezug, Metallbeschlägen und Schließen wurde um 1520/30 von einer Meißner Werkstatt hergestellt.

Im Zuge der Auflösung des Klosters Altzelle in der Reformationszeit um 1540 wurde der prachtvolle Psalter in das Tochterkloster St. Marienthal verbracht.

Digitalisat der Handschrift
Matthias Eifler: Vorläufige wissenschaftliche Beschreibung der Handschrift Marienthal, Kloster St. Marienthal, H 1/5, im Rahmen des DFG-Projekts 'Erschließung von Kleinsammlungen mittelalterlicher Handschriften in Ostdeutschland', Leipzig 2016
Helmut Engelhart: Der St. Marienthaler Psalter. Bemerkungen zu einer illuminierten Handschrift des 13. Jahrhunderts aus Franken. In: Taegert, Werner (Hrsg.): Hortulus floridus Bambergensis : Studien zur fränkischen Kunst- und Kulturgeschichte ; Renate Baumgärtel-Fleischmann zum 4. Mai 2002. Petersberg 2004, S. 371-392

 

Kapiteloffiziumsbuch des Zisterzienserklosters Altzelle

Handschrift auf Pergament (159 Blatt)
Ostmitteldeutschland: Zisterzienserkloster Pforta (?), um 1174/75
SLUB, St. Marienthal H 1/5

Die Handschrift wurde sehr wahrscheinlich im Zisterzienserkloster Pforta bei Naumburg geschrieben und ausgeschmückt. Von dort gelangte sie in das 1175 von Pforta aus besiedelte Zisterzienserkloster Altzelle. Bis zu ihrer wissenschaftlichen Beschreibung 2016 war die Existenz der für die Altzeller Klostergeschichte so wichtigen historischen Quelle der Öffentlichkeit nicht bekannt. Die Bezeichnung Kapiteloffiziumsbuch rührt daher, dass die Texte zur täglichen Lesung im Kapitelsaal des Klosters bestimmt waren. Entsprechend enthält die Handschrift das zisterziensische Martyrologium, das die Festtage der heiligen Märtyrer im Jahresverlauf verzeichnet, sowie die Ordensregel des Heiligen Benedikt von Nursia. Am Anfang der Texte finden sich insgesamt vier qualitätvolle Spaltleisteninitialen in Deckfarben, Textabschnitte werden durch blaue oder rote Silhouetteninitialen markiert.

In der Initiale zu Beginn der Ordensregel ist der Heilige Benedikt bei der Unterweisung eines Schülers dargestellt. Auf den Rändern des Martyrologiums wurden zum Totengedenken im Lauf der Zeit die Namen von 15 Altzeller Äbten vermerkt, deren Sterbetage damit bekannt sind. Auch einige nach 1175 im Kloster neu eingeführte Heiligenfeste wurden nachgetragen, wodurch Rückschlüsse auf die in Altzelle begangene Liturgie (gottesdienstlicher Ritus) möglich sind. Der Codex weist starke Gebrauchsspuren auf, die auf seine tägliche Nutzung zurückzuführen sind.

Der Holzdeckeleinband mit ornamental geprägtem Schweinslederbezug, Metallbeschlägen und Schließen wurde um 1520/30 in einer Meißner Werkstatt gefertigt.

Wie der St. Marienthaler Psalter wurde auch das für die Identität des Konventes (Klostergemeinschaft) so wichtige Kapiteloffiziumsbuch im Zuge der Auflösung des Klosters Altzelle (um 1540) in das Tochterkloster St. Marienthal verbracht.

Digitalisat der Handschrift
Matthias Eifler: Vorläufige wissenschaftliche Beschreibung der Handschrift Marienthal, Kloster St. Marienthal, F 5/31, im Rahmen des DFG-Projekts 'Erschließung von Kleinsammlungen mittelalterlicher Handschriften in Ostdeutschland', Leipzig 2016