Inhalt
Der Dresdner Maya-Codex besteht im wesentlichen aus Almanachen (Weissagungskalendern) in Form von Tabellen auf der Basis eines 260tägigen Ritualkalenders (Tzolk’in) und aus astronomischen Tafeln mit absoluten Zeitangaben gemäß der sogenannten Langen Zählung, die im Jahr 3114 v. Chr. gregorianischer Zeitrechnung einsetzte.
Mit Hilfe der Almanache prophezeiten die Maya-Priester das Schicksal für die einzelnen Tage des Tzolk'in, die abwechselnd von 20 Gottheiten regiert wurden. So wurde geweissagt, ob ein Tag günstig oder ungünstig für Aussaat, Ernte, Handel, Jagd, Kriegführung, Hochzeit, Geburt, Gesundheit etc. sein würde. Je nachdem wurden die Götter angerufen, Riten vollführt und Opfer dargebracht. Die auf den astronomischen Tafeln aufgezeichneten Berechnungen von Planetenumläufen und Finsternissen wurden letztlich, wie auch in vielen anderen Kulturen, zu astrologischen Zwecken angestellt.
Der Codex lässt sich in 13 verschiedene Kapitel einteilen, die sich oft über mehrere Seiten erstrecken. Die meisten Seiten sind mittels rotbrauner Linien in Abschnitte unterteilt, die in der Forschung mit Kleinbuchstaben bezeichnet werden.
Außer kurzen Hieroglyphentexten und Zahlenkolumnen enthält die Handschrift rund 400 teils kolorierte Zeichnungen, überwiegend von Göttergestalten.
Seite 1 bis 14b Einleitung
Seite 1-3 (stellenweise durch Wasserschaden kaum noch erkennbar): Opfer und Einkleidung der Götter. Seite 3a zeigt die Opferung des Helden Jun Ajaw. Dieser liegt gefesselt und entkleidet rücklings mit geöffnetem Leib auf einem Opferstein unter einem Baum, auf dessen Spitze ein Raubvogel mit einem Augapfel des Opfers im Schnabel sitzt. Jun Ajaw und sein Zwillingsbruder Yax Balam, Söhne des Maisgottes, opferten sich für die Auferstehung ihres toten Vaters.
Seite 4-14b: Anrufung der Götter; Vorbereitung von Prophezeiungen. Auf den Seiten 4b und 5b ist das Himmelskrokodil zu sehen, aus dessen Rachen der Kopf des höchsten Gottes und Schöpfers Itzamná hervorschaut. Dieser trägt greisenhafte Züge mit Adlernase und eingefallenem, zahnlosem Mund (deutlicher zu sehen beispielsweise auf Seite 9b rechts ). Ebenfalls wichtige, mehrfach dargestellte Götter sind der bärtige Sonnengott K'in Ajaw mit stilisiertem Sonnenstrahl auf der Adlernase (beispielsweise auf Seite 11b links), der Regengott Chaak mit rüsselartiger Nase (beispielsweise auf Seite 10b links), der Maisgott mit Maiskolben auf dem Kopf (beispielsweise auf Seite 9b links) und schließlich der knöcherne Todesgott Kimi mit Verwesungsflecken und Schellen an den Hand- und Fußgelenken (beispielsweise auf Seite 11a rechts).
Seite 13c-23: Almanache der Mondgöttin
Die individuellen Kennzeichen der jungen Mondgöttin sind ihre große weibliche Brust und ihre Frisur mit einer über den Rücken herunterhängenden Locke. Dargestellt wird sie als Göttin der Heilkunst und Überbringerin von Krankheit und Tod. Letzteren trägt sie auf Seite 16b rechts als Last auf dem Rücken, während ihr unterhalb die Krankheiten in Gestalt von Vögeln im Genick sitzen.
Seite 24 und 46-50: Venustafeln
Die Seiten haben den 584-tägigen Zyklus des Planeten Venus in einem Zeitraum von 104 Jahren zum Gegenstand. Beim Erscheinen des Planeten als Morgenstern fürchteten die Maya Unglück, das auf den Tafeln der Dresdner Handschrift jeweils durch 3 Bilder symbolisiert wird: Im oberen Bild schüttet die regierende Venusgottheit ein Gefäß über einer Kriegsgottheit mit gezückten Speeren im mittleren Bild aus und im unteren Bild liegt als getroffenes Opfer ein Tier bzw. ein Gott.
Seite 51-58: Finsternistafeln
Die Finsternis- oder Eklipsetafeln dienten der Vorhersage von Sonnen- und Mondfinsternissen, die im Abstand von fünf oder sechs Mondumläufen möglich waren und welche die Maya als Zeichen für kommende Not und Gefahr fürchteten. Die Finsternisse werden zumeist symbolisiert durch die Hieroglyphe für Tag bzw. Nacht zwischen einem hellen und einem dunklen wolkenartigen Gebilde unter dem Himmelsband. Als Basisdaten werden der 8. November 755 n. Chr. und der 20. September 1210 n. Chr. genannt.
Seite 58-59: Multiplikationstafeln: Vielfache von 78
Möglicherweise beziehen sich die Berechnungen auf den 780-tägigen Umlauf des Planeten Mars. Als Ausgangsdaten werden der 1. April 683 n. Chr. und der 3. April 2012 n. Chr. (!) genannt.
Seite 60: K‘atun-Prophezeiung
Vermutlich eine von ursprünglich mehreren Seiten eines Almanachs auf der Basis des K'atun-Zyklus (13 Perioden zu je 20 Sonnenjahren). Die Kampfszene (oben) und die Unterwerfungsszene (unten) weisen auf einen möglichen Krieg hin, den die Maya am Ende einer K'atunperiode befüchteten.
Seite 61-73: Regenzeiten
Seite 61-64: Einleitende Berechnungen. Die Lange Zählung in den Windungen von Schlangen, auf deren aufgerissenen Mäulern der Regengott Chaak und ein Kaninchen bzw. ein Pekari mit turbanartigen Kopfbedeckungen sitzen, umfasst mythische Zeiträume von über 34.000 Jahren. Mitunter werden auch absolute Daten aus dem 3. , 4. und 10. Jahrhundert n. Chr. angegeben. Eine besondere Rolle spielt ein Zyklus von 1820 Tagen, der 5 Haab- und 7 Tzolkin-Jahren entspricht.
S. 65-69b: Aufenthaltsorte des Regengottes Chaak und die jeweils erforderlichen Opfergaben, um ihn herbeizulocken.
S. 69c-73: Regentabellen. Einleitend eine "Schlangenzahl", die einen mythischen Zeitraum von über 32.000 Jahren angibt. Die Tafeln dienen meteorologischen Berechnungen und enthalten einzelne absolute Daten aus der Zeit vom 2. bis zum 12. Jahrhundert n. Chr. Eine besondere Rolle spielt ein Zeitraum von 1820 Tagen und der Schicksalstag 4 Eb. Die Hieroglyphentexte beziehen sich auf Regen, Winde und Stürme.
Seite 74: Die große Flut
Die beeindruckende Darstellung einer Flutkatastrophe nimmt eine ganze Seite ein, die ursprünglich auf die Regentabellen folgte. Unter der Hieroglyphenreihe ist das Himmelskrokodil zu sehen, das hier zerstörerische Wasserfluten speit. Aus zwei Finsterniszeichen strömt ebenfalls Wasser. Darunter schüttet die alte Göttin Ix Chel (Chak Chel), charakterisiert durch eine große Brust, Krallenhände und -füße, Schlangenkopfputz und gekreuzte Knochen auf dem Rock, aus einem Gefäß Wasser mitsamt der Zahl 5.1.0 (=1820) und der Hieroglyphe Eb (gemeint ist vermutlich der Tzolkin-Tag 4 Eb, der für das Eintreffen einer Flut prädestiniert war). Zuunterst kauert ein schwarzer Gott mit einer Schreieule auf dem Kopf sowie mit zwei Speeren in der einen und einer Schleuder in der anderen Hand. Es handelt sich um den Herrscher der Unterwelt am Tag der Schöpfung, die sich nach der Vorstellung der Maya alle 5.125 Jahre erneuert.
Seite 25-28: Neujahrszeremonien
Diese Seiten schließen in der heute von der Forschung erkannten richtigen Reihenfolge an die Darstellung der Großen Flut (Seite 74) an, weil die Neujahrszeremonien symbolische Neuschöpfungen des Kosmos sind. Jede Seite enthält 3 Bilder: oben ein Priester mit Opossummaske, der den Patronatsgott des neuen Jahres auf dem Rücken herbeiträgt; darunter zwei Opferszenen mit diversen Opfergaben und Räuchergefäßen zum Verbrennen von Weihrauchkörnern.
Seite 29-45: Bauernalmanache
Almanache dienten auch der Orientierung in der Bewirtschaftung der Felder. Sie enthielten Aussagen über Witterung und Ernte und wurden bei Regenbeschwörungen gebraucht. Es dominieren Darstellungen des Regengottes Chaak als Empfänger von Speiseopfern. Seite 34a zeigt eine Zeremonie zu Ehren des Maisgottes, an der Musiker mit Rassel, Trommel und Flöte beteiligt sind. Die Seiten 42 bis 45 betreffen die Reisen des Regengottes Chaak sowie den Planeten Mars (in Gestalt eines aus dem Himmel herabkommenden Paarhufers) während einer 780-Tage-Periode.
Seite 28*-28*** und 60*: Leerseiten
Die vier unbeschriebenen Seiten sind möglicherweise ein Indiz dafür, dass der Codex unvollendet geblieben ist.