Pressemitteilung

Sächsische Landesbibliothek — Staats- und Universitätsbibliothek Dresden übernimmt Vorlass des Komponisten H. Johannes Wallmann

Glockenrequiem mahnt an Zerstörung Dresdens am 13. Februar 1945

Nach langjährigen Verhandlungen haben H. Johannes Wallmann und die Sächsische Landesbibliothek, Staats- und Universitatsbibliothek Dresden (SLUB) einen Vertrag zur Übernahme des musikalischen und philosophischen Vorlasses des Komponisten geschlossen. Nun konnten die ersten Kisten mit Noten, Schriften, Tonbändern und Videodokumenten von Berlin nach Dresden geholt werden. Weitere werden bis 2023 folgen. Am 23. Februar feiert H. Johannes Wallmann seinen 70. Geburtstag — mit der Archivierung des kulturhistorisch bedeutenden Materials kann eine erste Bilanz seines Schaffens im Verhältnis zu grundlegenden gesellschaftlichen Fragen des 20. und 21. Jahrhunderts gezogen werden.

H. Johannes Wallmann war, nach einer politisch motivierten Relegation vom Kompositionsstudium, 1973-1979 zunächst als Orchestermusiker tätig, wurde 1976-1981 von Friedrich Goldmann unterrichtet, leitete 1975-1986 die „Gruppe Neue Musik Weimar“ und verfolgte in seinen Kompositionen seit den 1970er Jahren konsequent Ideen einer „integralen Moderne“. Bekannt wurde der Komponist durch Projekte, die in der Verbindung verschiedener Sinne und Kunstformen gesellschaftliche Wirksamkeit anstreben. Wallmann nutzt seine musikalischen Ideen, um weit über Musik hinaus auf gesellschaftliche Phänomene aufmerksam zu machen und Veränderung anzuregen. Kunst ist Wallmann nichts Abgeschiedenes, sondern selbstverständlicher Teil des Lebens. Seine Kompositionen beziehen häufig den sie umgebenden Raum ein — zum einen, weil auch der Raum konstitutiv für das Kunstwerk ist, zum anderen, weil vor allem durch das Verorten der (künstlerischen) Aussage inn alltägIichen Stadt- bzw. Landschaftsraum neue künstlerische Herausforderungen entstehen und ein ungleich größeres Publikum erreicht werden kann als in speziellen Konzerträumen.

Die intensive Auseinandersetzung mit anderen Künsten, ästhetischen, philosophischen, soziologischen und allgemein geistes- und naturwissenschaftlichen Fragen findet vielfachen Eingang in sein Werk. 2006 veröffentlichte Wallmann (u.a. als Antwort auf die Postmoderne) seine Vorstellung einer spartenübergreifenden und lebensumfassenden „Vision und Philosophie der Zukunft“ — das Konzept der „integralen Moderne“, die die Trennung der einzelnen Lebensbereiche überwindet. Musik ist in diesem ganzheitlich gedachten Konzept ein Element neben vielen anderen, aber eines, in und mit dem Wallmann sich ausdrückt und Gehör verschafft.

Beispielhaft für Wallmanns Anspruch, mit musikalischen Mitteln gesellschaftlich wirksam zu werden, steht das Glockenrequiem für 129 Glocken, aufgeführt am Vorabend des 13. Februar 1995 in Dresden. Mit Hilfe von 47 Geläuten mahnt es an die Zerstörung Dresdens, setzt zugleich aber auch ein Zeichen für, so Wallmann, „Frieden und d[ie] zukunftstragfähige Gestaltung der Welt.“ Eine Fortsetzung fand es 2005 im Glockenrequiem XXI, das unter anderem drei Chöre mit Texten aus der jüdischen, christlichen und islamischen Tradition ergänzt.

Indem Wallmann seine Vision stets konsequent verfolgte, eckte er durchaus auch an — zumal unter den Bedingungen der DDR, die ihm das Äußern freiheitlicher Ideen derart erschwerte, dass er schließlich 1986 einen Ausreiseantrag stellte und 1988 in die BRD übersiedelte. Erfahrenes Unrecht zu thematisieren, gehört zu den Motoren seines künstlerischen Schaffens und schlägt sich in seiner publizistischen Tätigkeit nieder. Die Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur, die u.a. Dokumente zu Wallmanns Vater, Heinrich Wallmann, der 1947-1954 als Stadtjugendpfarrer Leipzigs schweren Repressionen ausgesetzt war, aufbewahrt, steht ihm dabei beratend zur Seite. Auch bei der Vermittlung der H. Johannes Wallmann-Materialien an die SLUB Dresden unterstützte die Bundesstiftung wesentlich.

Wallmanns Engagement bezeugen nicht nur seine musikalischen Werke, sondern auch eine detaillierte Dokumentation seines Schaffens in begleitenden Texten, Rezensionen und nicht zuletzt eine umfangreiche Homepage. Dieses Material — Konzepte, Partituren, Mitschnitte, Plakate, Programmhefte, eigene Texte, Rezensionen und Artikel zu Wallmanns Schaffen — ist jetzt in der SLUB Dresden langfristig gesichert und für die interessierte Öffentlichkeit, Forschung und musikalische Praxis zugänglich. Die Musikabteilung ergänzt damit ihren seit den 1960er Jahren aufgebauten, dichten Bestand zum DDR-Musikleben und zu ostdeutschen Komponisten.

H. Johannes Wallmann:

„Nicht nur die Liebe, der Mut und das anti-totalitäre Engagement meiner Eltern und meiner Frau, sondern auch meine Kompositionslehrer sowie der Maler/Kulturphilosoph Kurt W. Streubel (der mich mit der Ideenwelt des Weimarer Bauhauses verband) sind für mich ein GIücksfall der Kultur- und Musikgeschichte. Denn auf dieser Basis wurde es mir von Schönberg, aber auch Debussy, Satie, Ives und Messiaen herkommend — möglich, nicht nur neue kompositorische, sondern auch neue musik- und kulturphilosophische Wege zu begehen, die (post- und neo-) totalitären Ansprüchen jedweder Art eine Absage erteilen. Allerdings möchte ich mein Werk keineswegs als agitatorisch missverstanden Sehen und stattdessen auf seine kompositorische und kulturphilosophische Substanz verweisen (s.a. integrale-moderne.de).“

Dr. Matthias Buchholz, Leiter Archiv, Bibliothek und Dokumentation der Bundesstiftung Aufarbeitung:

„Wir freuen uns sehr, den Vorlass von H. Johannes Wallmann und seiner Frau, die auf das Engste mit dem Schaffen ihres Mannes verbunden ist, nun in ausgesprochen kompetenten Händen zu wissen, die für eine Zugänglichmachung Sorgen werden. Damit wird die Möglichkeit eröffnet, nicht nur das kompositorische Werk Wallmanns, Sondern die gesamte dahinterstehende Philosophie zu rezipieren. Wir würden uns wünschen, dass dies zu einer verstärkten Auseinandersetzung mit den Möglichkeiten und Grenzen des musikalischen Schaffens in der DDR beiträgt.“

Prof. Dr. Barbara Wiermann, Abteilungsleiterin Musik der SLUB Dresden:

„Mit der Übernahme der Materialien aus dem Vorlass H. Johannes Wallmanns dokumentiert die SLUB ein wichtiges Zeugnis der zeitgenössischen engagierten Musik. Das Schaffen Wallmanns ergänzt au f diese Weise unser Archiv fur zeitgenössische Kompositionen um wichtige Aspekte. Deutlich werden Wallmanns Ideen nicht nur in den Kompositionsautographen, sondern auch in den Mitschnitten, den aufwendig gestalteten Plakaten, den Texten und Aufrufen. Die SLUB Dresden kann mit ihrer breiten Expertise dieser Medienvielfalt gut gerecht werden. Die Materialien werden hier adäquat aufbewahrt und zugänglich gemacht, so dass sie einer wissenschaftlichen und künstlerischen Rezeption, aber auch einer allgemein gesellschaftlichen Diskussion zur Verfügung stehen.“

Bildmaterial zur freien Verwendung: www.slubdd.de/wallmannbilder

Kontakt

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Abteilung Musik und AV-Medien
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